Das Gefühl der Schuld

05.01.2024 – Beitrag von Darius Waldhof
Lesedauer ca. 10 Minuten

Zum Verständnis der Schuld als Gefühl ist es wichtig, die Schuld und die gesellschaftlichen Normen, wie z.B. die Rechtsprechung ganz klar voneinander zu trennen. Ein Einbrecher, der etwas klaut, ist bemessen an seiner Tat, schuldig. Es heißt aber nicht automatisch, dass er sich schuldig fühlt oder schuldig fühlen muss. Es kann sein, dass er die Möglichkeit, bestraft zu werden, bereits vor seiner Tat bedacht hat und seine Strafe schuldfrei annehmen kann. Bei dieser Betrachtung der Schuld geht es also nicht um die Tat an sich, sondern um das Gefühl.

Was ist also die Schuld? In erster Linie ist Schuld ein menschliches Gefühl. Das Gefühl entsteht im Menschen selbst, wenn der Mensch emotional nicht in der Lage ist, für das, was er getan oder nicht getan hat, die volle Verantwortung zu übernehmen. Diese Definition erscheint vielleicht im ersten Moment etwas fremd, aber ich wünsche, mit diesem Artikel ein gutes Verständnis für das Gefühl der Schuld vermitteln zu können.

Ein Mensch trifft im Laufe seines Lebens jeden Tag Entscheidungen. Es sind ganz einfache bis ganz schwierige Entscheidungen. Bei den einfachen Entscheidungen ist es oft so, dass es dem Menschen gar nicht richtig bewusst wird, dass er eine Entscheidung getroffen hat, weil die Entscheidung entweder Teil einer täglichen Routine ist oder die Konsequenzen der Entscheidung keine große Rolle spielen.

Hier ein Beispiel:
Nehmen wir mal an, ein Mensch, unser Protagonist trinkt jeden Tag nach dem Aufstehen ein Getränk. Er hat an einem Morgen die Wahl zwischen Kaffee und Tee. Und er entscheidet sich für den Kaffee. In unserem Beispiel bleibt unser Protagonist dem Tee schuldig, weil er sich für den Kaffee entschieden hat. Er fühlt aber keine Schuld, weil er mit seiner Entscheidung, Kaffee zu trinken, emotional ganz gut umgehen kann und der Möglichkeit, Tee zu trinken, trauert er nicht nach. Er hadert auch nicht mit sich selbst. Er hat in sich mit dem Kaffeetrinken keine Schuld erzeugt.

Die emotionale Situation unseres Protagonisten kann sich aber schnell ändern, wenn seine Mutter anruft und ihm zum Kaffee und Kuchen am Wochenende einlädt (bei sich haben möchte).

Nehmen wir mal an, er hat keine Lust, am Wochenende seine Mutter zu besuchen. Seine Psyche beginnt zu arbeiten. Er muss sich entscheiden:

a) Ich höre auf meine innere Stimme, die mir sagt: „Ich habe keine Lust auf das Treffen.“
b) Ich gehe trotzdem hin und folge dem Wunsch meiner Mutter.

Entscheidet er sich für a) bleibt er der Möglichkeit b) schuldig. Entscheidet er sich für b) bleibt er der Möglichkeit a) schuldig. Egal wie er sich entscheidet, einer Möglichkeit bleibt er schuldig. Was nimmt er also als Entscheidungsgrundlage? Was ist ihm wichtiger, auf sich selbst zu achten und der inneren Stimme zu vertrauen oder sich gegen sich selbst zu entscheiden und dem Willen der Mutter zu folgen? Kann er überhaupt eine klare Entscheidung treffen? Und wenn ja, kann er mit den Konsequenzen emotional gut umgehen?

Um diese Situation besser zu verstehen, müssen wir einen Zeitsprung in die Kindheitsphase unseres Protagonisten wagen. Einen Sprung in die Zeit, als unser Protagonist noch als ein kleines Baby völlig hilflos, bedürftig und abhängig von seiner Mutter war. Als Baby hatte er Bedürfnisse, z.B. nach Liebe, Geborgenheit und Zuwendung oder hatte ab und zu einfach nur Hunger. Wie konnte er aber als Baby seine Bedürfnisse äußern? Zu diesem Zeitpunkt war sprechen nicht möglich also hat er seine Bedürfnisse emotional mit Wut durch Weinen und Schreien zum Ausdruck gebracht. An dieser Stelle sei es erwähnt, dass Wut als ein authentisches Gefühl im Menschen angelegt ist, um auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen und sie auch zu schützen. Also hat unser kleiner Protagonist mit Wut auf seine Bedürfnisse aufmerksam gemacht. Die Energie der Wut hat die Wut der Mutter berührt und in ihr, ihre Wut aufsteigen lassen. Ein ganz wichtiger Moment im Leben unseres Protagonisten findet gerade statt. „Wie reagiert meine Mutter auf meine Bedürfnisse? Darf ich ihr gegenüber meine Bedürfnisse zeigen? Reagiert sie verständnisvoll und kümmert sie sich um mich oder reagiert sie genervt?“

Die Reaktion der Mutter ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes
und seinen Umgang mit eigenen Bedürfnissen.

In den meisten Fällen reagiert die Mutter auf die Wut des Kindes bewusst oder unbewusst mit der eigenen Wut und signalisiert dem Kind, dein Schrei nervt. Das Kind bezieht jegliche Reaktion der Mutter auf sich selbst und falls die Mutter genervt reagiert, fühlt sich das Kind verantwortlich für die Wut der Mutter und letztendlich schuldig für die gesamte Situation.

Als Baby oder kleines Kind ist der Mensch nicht in der Lage, die volle Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Die emotionale Ressource ist in ihm noch nicht genügend gereift. Trotzdem sucht das Kind nach Orientierung und bezieht jegliche Reaktion der Erwachsenen auf sich selbst. „Wenn ich meine Bedürfnisse äußere, z.B. durch Wut und Schrei, wie reagiert meine Mutter?“ Wenn sie in solchen Momenten selber wütend wird, heißt es: „An mir muss etwas falsch sein, sonst würde meine Mutter so nicht reagieren.“

Wiederholen sich diese Erlebnisse, fängt das Kind an, seine eigenen Gefühle, in dem Fall die Wut, Stück für Stück in Frage zu stellen und zu unterdrücken. Das Kind will nichts falsch machen, will sich nicht schuldig fühlen, hat aber nicht die emotionalen Ressourcen, mit diesen Konflikten umzugehen. Das Kind hat die Wahl, zu sich und zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen oder sich so zu verhalten, wie die Erwachsenen das von ihm wollen. Egal wie sich das Kind entscheidet, es bleibt der anderen Möglichkeit schuldig.

Zurück zu unserem Protagonisten…
In seiner Psyche steht er vor einer ähnlichen Situation. Er kann zu seinem Bedürfnis stehen und sich für sich entscheiden oder dem Wunsch seiner Mutter folgen. Egal wie er sich entscheidet, bleibt er der anderen Möglichkeit schuldig. Aber ob er sich nach der Entscheidung schuldig fühlen wird, hängt es von seiner inneren Reife ab. Ist er noch in dem kindlichen Bewusstsein und kann die Verantwortung für seine Entscheidung nicht tragen, wird er sich für die nicht gewählte Möglichkeit schuldig fühlen. Sagt er der Mutter ab, muss er damit rechnen, dass sie bewusst oder unbewusst mit Unzufriedenheit reagieren wird. Kann er das emotional aushalten und verarbeiten, dass die Mutter vielleicht den Grund für ihre Unzufriedenheit bei ihm suchen wird? Wenn er das nicht kann, wird er sich innerlich schuldig fühlen: „Meine Mutter ist wegen mir unzufrieden.“, „Ich bin an der Unzufriedenheit meiner Mutter schuldig.“

Ist unser Protagonist innerlich erwachsen und reif, wird er bei der Entscheidung kurz innehalten, seine innere Stimme wahrnehmen, dem eigenen Gefühl vertrauen, zu sich stehen und der Mutter mit ehrlichen Worten absagen. Natürlich wird er dem Besuch bei der Mutter schuldig bleiben aber er wird sich dafür nicht schuldig fühlen.

Schuld gehört in die Kategorie der sogenannten negativen Gefühle. Sie ist wie eine Last, die man ständig mit sich trägt. Das macht den Menschen gefügig, weil er die Last nicht tragen möchte und das ungute Gefühl loswerden möchte. Aus dem Unverständnis heraus, woher die Schuld überhaupt kommt, versucht der Mensch im Außen durch eine „gute Tat“ oder eine Sühne die Schuld wieder auszugleichen oder durch Projektion, die Schuld von sich zu weisen und sie einem anderen Menschen zu geben. Beides führt nicht zur Lösung.

Und was ist letztendlich die Lösung?

Die Lösung liegt wie alles andere im menschlichen Bewusstsein. Ein Neugeborenes findet sich im kindlichen Bewusstsein wieder und versucht im Außen, die Orientierung zu finden. Das Innere wird durch das Äußere geprägt. Zu dem Zeitpunkt ist das Kind den Erwachsenen unterlegen und von den Erwachsenen abhängig. In der Abhängigkeit versucht das Kind, den Erwachsenen zu gefallen, um Liebe, Zuneigung und Versorgung zu bekommen. Aus der Sicht des Kindes, kommt alles von Außen, die Liebe, die Zuneigung, die Versorgung, der Lob aber auch die Strafe. Bleibt ein Mensch im kindlichen Bewusstsein „stecken“, orientiert er sich sein Leben lang im Außen. Er ist sich selber nicht bewusst. Er hat den Reifegrad eines Erwachsenen noch nicht erreicht. Und das biologische Alter des Menschen spielt dabei keine Rolle. Es gibt sehr reife 20-jährige und absolut unreife 80-jährige.

Gelingt es jedoch dem Menschen, im Laufe seines Lebens sich von seinem kindlichen Bewusstsein zu befreien, erkennt er seine Herkunft, seine Größe und seine Macht. Er erkennt auch, dass das Außen nur der Spiegel seines Inneren ist und immer war. Durch die Selbsterkenntnis kommt auch die Selbstverantwortung. Der Mensch erkennt, dass die Schuld ein selbstgemachtes Gefühl ist und alles Selbstgemachte kann wieder Erlösung finden – und so auch die Schuld. Der Mensch erkennt, dass durch die Übernahme der Verantwortung für alles in seinem Leben, er keine Schuld mehr erzeugen kann.

Wenn ein reifer Mensch vor einer Entscheidung steht, fühlt er in sich hinein. Er nimmt sich wahr, verbindet sich mit seiner inneren Wahrheit und wenn es sein muss, nimmt er sich auch die Zeit, die er braucht, um die Entscheidung zu treffen. Er vertraut sich selbst. Wenn er die Entscheidung in sich fühlen kann, trifft er sie und handelt dementsprechend. Er ist emotional in der Lage, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen und auch die Konsequenzen der möglichen Alternativen, bei denen er sich dagegen entschieden hat. Er weiß um seine Verantwortung für das, was er tut und auch für das, was er unterlässt. Er bleibt der Alternativen seiner Entscheidung schuldig, aber er fühlt sich nicht schuldig. Er bringt somit keine neuen Schuldgefühle in die Welt.

Einer der wichtigen Aspekte sei hier noch erwähnt. Ein Mensch trifft seine Entscheidungen immer zu einem Zeitpunkt. Zu diesem Zeitpunkt stehen ihm Informationen zur Verfügung. Auch dieser Tatsache ist sich ein reifer Mensch bewusst. Sollten ihm zu einem späteren Zeitpunkt neue Informationen zur Verfügung stehen, die möglicherweise dazu führen, dass er vor einer neuen Entscheidung steht und aufgrund der neuen Informationen eine andere Entscheidung trifft, trägt dieser Mensch auch dafür die volle Verantwortung und macht sich keine Vorwürfe: „Hätte ich das früher gewusst…“. Er hat das früher nicht gewusst, sonst hätte er diese Informationen berücksichtigt.

Unreife Menschen, die sich im Außen orientieren, fürchten sich vor den Reaktionen der Anderen. Sie orientieren sich wie kleine Kinder an den Meinungen der Anderen und sind somit ein Spielball der Anderen und der äußeren Umstände. Sie fühlen sich schuldig, wenn sie etwas „falsch“ gemacht haben und generieren damit unbewusst neue Schuldgefühle. Da bei solchen Menschen alles „von Außen“ kommt, versuchen sie auch im Außen ihre Schuldgefühle wieder loszuwerden. Das geschieht religiös durch eine Sühne, gesellschaftlich durch eine „gute Tat“ oder ganz einfach durch Projektion der Schuld auf Andere. Aus Angst etwas „falsch“ zu machen, sind sie auch nicht in der Lage, mutige Entscheidungen zu treffen. Sie sind sich ihrer Handlungen selten bewusst. Sie sind sich auch dessen nicht bewusst, dass sie eine der Quellen der Schuldgefühle dieser Welt sind.

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Seminarleiter –  Darius Waldhof

Über den Autor Darius Waldhof

Darius ist ein Bewusstseinsforscher, Wahrheitsfinder und Impulsgeber für ein neues Miteinander. Er hat die Gabe, aus komplexen Situationen die Kernbotschaft wahrzunehmen und sie in prägnanter Form zu benennen. Darius hat ein gut ausgeprägtes Gespür für die verborgenen und aktiven Muster, die in zwischenmenschlichen Beziehungen wirken. In seiner Arbeit unterstützt er Menschen in ihren persönlichen, familiären und beruflichen Wandlungsprozessen. In globalen und gesellschaftlichen Fragen ist es ihm ein großes Anliegen, die Verdrehungen, die die Menschheit in sich trägt, zu benennen und Lösungen aufzuzeigen. Die Findung der eigenen Wahrheit, der Weg des Herzens und die Bewusstseinsarbeit im Miteinander ist seine Vision für die aktuelle und kommende Zeit.